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Skurrile Komödie zwingt am Ende zum Nachdenken

[09.03.2023/MRG] „Die Physiker“ – nach Friedrich Dürrenmatt

Annas riesiges Gesicht auf der Leinwand. Müde. Lustlos. Es war ein langer Schultag. Aber das Gesicht (intensiv: Anna Wendl) zeigt auch eine Spur Verzweiflung. Denn es soll noch ein Referat entstehen. Über diesen Dürrenmatt. Langweilig. Ist sicher schon hundert Jahre tot, der Typ. Und wie das Stück schon heißt. „Die Physiker“. Dazu ein staubtrockener Wikipedia-Artikel. Ermüdend. Besser erst gar nicht lesen. Letzter Notnagel: DIAZ fragen, die digitale Assistentin (Antonia Ströhl spielt DIAZ großartig kühl und abgeklärt). DIAZ nimmt die Aufgabe ernst und schafft eine virtuelle Welt.

Das Geschehen wechselt auf die Bühne. Die Schülerin, die eben noch am Referat arbeitete, wird von DIAZ durch das Stück geführt, mitten hinein in den Alltag einer Heilanstalt für schwer psychisch Kranke. Heute gab es einen Mord. Nein, Verzeihung. Die Oberschwestern (gestrenge Bewacherinnen: Jiayun Zou und Frederike Dötsch) müssen die Kriminalinspektoren immer wieder korrigieren. Es gibt zwar eine tote Krankenschwester. Erwürgt mit der Schnur der Stehlampe. Dienstbeflissen ermitteln das Emilia Rubenbauer als Gerichtsmedizinerin und Stella Decker als Polizistin. Aber der Täter ist verrückt. Hält sich für Einstein. Die Kriminaler (die spielfreudigen Nina Eules und Onyx Beha als sehr lässiges und schön zusammenspielendes Ermittlerduo) müssen es einsehen: Nicht schuldfähig. Also kein Mord. Sondern Verbleib des Täters in der Heilanstalt, bei den anderen verrückten Physikern: Ein weiterer Insasse ist als Newton verkleidet. Erzählt aber jedem, dass er nicht verrückt ist. Den Newton nur spielt. In Wirklichkeit sei er der einzig echte Einstein. Und hat ebenfalls eine Krankenschwester auf dem Gewissen. Man ahnt es: erwürgt, allerdings mit der Gardinenschnur. Dem dritten Physiker, Möbius, erscheint König Salomo (fürstliche Erscheinung als antiker Herrscher: Oscar Oeckl).

Skurrile Szenen folgen. Die Ex-Frau von Möbius (sehr intensiv gespielte Emotionen: Kathrin Liebl) mit ihren drei Buben tritt auf. Ein letzter Besuch, denn sie ist neu verheiratet mit einem salbungsvoll in Bibelversen sprechenden Missionar (diese groteske Figur wird sehr ausdrucksstark gestaltet von Michael Wiesnet, der später ebenso intensiv den brutalen Aufseher gibt). Die Buben (wunderbar brav: Pia Mutzbauer, Amelia Meissner, Emily Sprychel) spielen für ihren Vater ein letztes schräges Blockflötentrio. Möbius bleibt ungerührt. Lässt sich die Zukunftspläne der Buben erläutern. Theologie ist in Ordnung. Philosophie auch nicht schlecht. Aber seinem Jüngsten verbietet er eindringlich und plötzlich sehr emotional das Studium der Physik.

Schwester Monika liebt Möbius. Und hält ihn keineswegs für verrückt. Auch Möbius liebt sie. Und warnt sie. Aber sie lässt nicht locker, will mit ihm fliehen und ein neues Leben aufbauen. Nika Hüttner als Monika sowie Möbius zeigen uns hier ausdrucksvoll bewegende Gefühle. Aber natürlich muss auch Möbius die Krankenschwester, die er ernsthaft liebt, ins Jenseits befördern, um seine Tarnung nicht zu gefährden. Denn selbstverständlich sind die Physiker nicht verrückt. Newton (erst sehr elegant und stimmig als barocker Wissenschaftler in wunderbarem Kostüm und jetzt kühl und nüchtern als Geheimagent: Antonia Tessmann) und Einstein (Mik Bober spielt mit toller Einstein-Maske das müde Genie ebenso überzeugend wie den klaren Agenten) planen, den genialen Möbius aus der Anstalt in ihr jeweiliges Land zu bringen. Aber Möbius lehnt ab. In einer spannenden Diskussion, angereichert mit ein paar Pistolenduellen, gewinnt Möbius die anderen für seinen Vorschlag. Er hat zwar die legendäre Weltformel gefunden. Aber damit seine Ideen keinen Schaden anrichten, hat er den Weg ins Irrenhaus gewählt. Lia-Maline Müller spielt die Rolle(n) des Möbius sehr eindringlich, facettenreich und intensiv – ihr gelingt der Verrückte ebenso plausibel wie der Liebende und der ethische Denker, der sich aus der Welt zurückzieht, um die Welt zu retten. Die vernichtende Wirkung genialer Erfindungen von der Steinzeit bis heute sehen wir in einer rasanten Bildershow. Dank eines perfekten Technikteams klappt das wie auch die raffinierten Lichtwechsel wie am Schnürchen.

Möbius hat die Rechnung ohne die Leiterin der Anstalt gemacht. Sie hat die Aufzeichnungen seiner Theorien längst gestohlen. Als einzig wirklich Verrückte wird sie die Weltherrschaft an sich reißen. Nadja Rein zeigte uns lange überzeugend die verständnisvolle Beschützerin ihrer Verrückten – und jetzt ihren Wahnsinn.

Hier endet Dürrenmatts Stück. Und so möchte Anna sich aus der – immer noch virtuellen? – Realität abmelden. Aber DIAZ lockt sie: „Bleib doch noch ein wenig.“ Das Abmelden gelingt nicht. Und dann: „Niemand kommt hier lebend raus.“ Und Annas Schrei.

Was als unterhaltsame und skurrile Komödie begann, zwingt uns am Ende zum Nachdenken und erinnert uns an die Verantwortung, die jeder Einzelne trägt. Und daran, dass wir alle die Konflikte dieser Welt nicht hinter uns lassen können.

Viel Applaus für eine großartige Ensembleleistung des Oberstufentheaters des MRG und die bemerkenswerte Regiearbeit der Leiterin Simone Nimmerrichter.

Christoph Schulz
(Schultheaterleiter am Gregor-Mendel-Gymnasium)

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MRG: „Der Besuch der alten Dame“

[MRG, 19.04.2018] Einmal reich sein. Davon träumen viele Menschen. So auch die Bürger der Stadt Güllen. Früher ist alles besser gewesen, darüber sind sich die Stadtbewohner (überzeugend: Samara Stapler, Nina Ringer, Nadja Rein und Paula Keppler) einig. Mittlerweile ist der Pfändungsbeamte (authentisch gespielt: Greta Reber) ein unbeliebter Dauergast in dem verarmten Nest. Hoffnung geweckt wird durch die Ankündigung des Besuchs der Milliardärin Claire Zachanassian (überragend und brillant gespielt von Julia Wenkmann), einer ehemaligen Bürgerin. Nicht nur die Stadtbürger, sondern auch der Bürgermeister (hervorragend: Lea Eckert), die Lehrerin (mitreißend dargestellt von Jana Zinnbauer), der Pfarrer (lebendig: Alexandra Schwarz) und ihr ehemaliger Geliebter Alfred Ill (ausdrucksstark: Silas Klemm) planen eifrig einen angemessenen Empfang. Helle Aufregung macht sich breit, als der Schnellzug außerplanmäßig in der Stadt hält. Schon bald jedoch schlägt die mit dem Aufenthalt verbundene Hoffnung in Verwunderung über das merkwürdige Verhalten der Milliardärin um. Nach dem Motto „Geld regiert die Welt“ tritt sie als männerverbrauchende, machthungrige und rachsüchtige Schicksalsgöttin auf. Zum Erstaunen aller hat sie nicht nur einen mit Geld um sich werfenden Butler (überzeugend: Lia-Maline Müller), sondern auch, wie es alltäglich ist, einen Sarg im Gepäck.

Ja, durch Alfred Ills Hilfe soll alles in Güllen besser werden, denn in ihm ruht die Hoffnung darauf, dass die Milliardärin den Glanz der guten alten Zeit in die Stadt zurückbringt. Hat er es doch vor 45 Jahren auch geschafft, sie um den Finger zu wickeln. Doch das gemeinsame Schwelgen Claires und Alfreds in Erinnerungen schlägt bald um. Freut sich Alfred noch über das versprochene Geld, wird er bald von seiner Vergangenheit eingeholt. Die junge Claire ist damals von ihrer Jugendliebe Alfred Ill schwanger geworden, jedoch hat dieser vor Gericht die Vaterschaft verleugnet. Gedemütigt und verarmt hat die Frau daraufhin Güllen verlassen und ihr Glück in der großen, weiten Welt gesucht. Claire ist nun durchaus bereit, ihrer Heimatstadt mit einer Milliarde unter die Arme zu greifen mit der Absicht, sich damit Gerechtigkeit zu erkaufen. Doch stellt sie eine unmoralische Bedingung: Die Stadt erhält das Geld nur, wenn jemand Alfred Ill tötet. Die Bürger reagieren, wie man es erwartet, zunächst mit großer Empörung. Jedoch zeigt sich, dass die Güllener nach und nach von dem verlockenden Reichtum verführt werden und Verständnis für Zachanassians Plan zeigen. Nicht nur die Polizistin kauft sich blaue Schuhe (ausdrucksstark: Hanna Schallmeier), der Pfarrer investiert in eine neue Kirchenglocke und Ills Frau (überzeugend: Laura Taller) modernisiert den Krämerladen. Nun scheint all dies auf Kredit möglich zu sein. Jeder möchte von dem Kuchen ein Stück abhaben, aber niemand möchte sich seine Finger schmutzig machen und den dafür notwendigen Mord begehen. Es folgt eine verdeckte Hetzjagd, symbolisiert durch anonymisierende weiße Masken, auf den misstrauischen Ill, der bei jedem Anzeichen des Wohlstandes den nahenden Tod spürt und die Hoffnung auf Rettung schließlich aufgibt. Selbst die Presse (gekonnt: Maximilian Maier) zeigt Interesse für die merkwürdigen Geschehnisse in dieser verkommenen Stadt. Verurteilt bei einer Bürgerversammlung, stirbt Alfred Ill. War es ein Gemeinschaftsmord oder war der Herzstillstand eine Folge des Stresses? Die Interpretation ist dem Zuschauer selbst überlassen.

Der Theatergruppe des Max-Reger-Gymnasium unter der Leitung von Bianca Rauchenberger und Nina Kohl gelang mit ihrem wunderbaren und flott gespielten Stück, bei dem die Mitwirkenden offensichtlich große Spielfreude und Engagement zeigten, eine moderne Umsetzung von Friedrich Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“. Die dargestellte Thematik, welche Macht das Geld über die Gesellschaft und den einzelnen Menschen hat, ist nach wie vor aktuell und regt den Zuschauer zum Nachdenken an. Die Schauspieler, tatkräftig unterstützt durch die Regieassistentin Magdalena Probst und die Techniker Katharina Wenkmann und Johannes Trummer, verkörperten ihre Rollen überzeugend und wuchsen über sich hinaus.

Katharina Augustin und Brigitte Bodensteiner, Spielleiterinnen/FXvS-RS

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Bizarre Gerichtsverhandlung – und doch keine Panne!

Die meisten Zuschauer reagierten verhalten, einige verblüfft. Das, was auf der Bühne zu sehen war, war das wirklich das Stück, das man sehen wollte? Oder waren sie im falschen Film? Gleich zu Beginn der Aufführung eine reale Panne? Die Erwartungshaltung der Zuschauer erlitt bereits zu Beginn von Dürrenmatts „Die Panne“, präsentiert von der Oberstufentheatergruppe des GMG unter der Spielleitung von Sabine Edl, Schiffbruch.

Janina Shalsi ergriff als Regisseurin die Initiative und „ordnete wieder die Tassen im Schrank“: Man habe mit der Schlussszene eröffnet, sie könne nur hoffen, dass die Zuschauer gut aufgepasst hätten, weil diese Szene nicht mehr gespielt werden würde. Deshalb wäre nun deshalb der Zuschauer vollste Aufmerksamkeit gefordert. Und diese wurde dem seltsamen, einmal in heitere Ausgelassenheit, dann in bedrückende Stimmung versetzenden Geschehen auf der Bühne voll zuteil.

Im Mittelpunkt der spannenden Handlung steht Alfredo Traps, ein Textilreisender, ein, wie Dürrenmatt sagt, „Dutzendgesicht“, aus dem die Menschheit blickt, Gericht und Gerechtigkeit sichtbar werden, vielleicht auch Gnade, widergespiegelt von einem Monokel eines Betrunkenen. Bastian Prechtl übernahm, belohnt von viel Beifall, diesen Part, mit sicherem Gespür und Einfühlungsvermögen für die Nuancen, die diese Rolle erforderte. Nach einer Autopanne will er die Nacht in der Villa vom pensionierten Richter Wucht (Bettina Melzer, überzeugend Ehrwürdigkeit verkörpernd) verbringen. Dabei gerät er in einen Herrenabend mit weiteren pensionierten Anwesenden: Staatsanwalt Zorn (Kathrin Schröpf, in einer Paradeszene bei der Verbrüderung mit dem Angeklagten), Rechtsanwalt Kummer (Melitta Diener, schön doppeldeutig in ihrer Besorgnis um den Angeklagten), und dem ehemaligen Henker Pilet (Katharina Klinger, mit clowneskem Talent). Als unwiderstehlich verführerisch greift Svenja Drescher als Nichte des Richters in das groteske Geschehen ein, bei dem Alexander Bollow als witzig auflockernde Hausdame für unablässigen, reichlichen Alkoholnachschub sorgt.

In einer bizarren Gerichtsverhandlung spielt die Herrenrunde ihre alten Berufe und zeigt, dass sie immer noch damit bestens vertraut ist. Traps wird zu seinem Erstaunen zum Angeklagten, und weil ihm Spiele Spaß machen, freut er sich auf einen vergnüglichen Abend. Sich nach seinem Verbrechen erkundigend erfährt er vom Staatsanwalt, dies sei ein unwichtiger Aspekt, denn ein Verbrechen lasse sich immer finden. Nach und nach verstrickt sich Traps, teils aus Geschwätzigkeit, teils wegen unvorsichtiger Antwortet und falscher Taktik, auch als Stolz über das, was er, der aus sozial benachteiligten Verhältnissen stammt, mit Ehrgeiz und ungeheurem Kraftaufwand aus sich gemacht hat: einen erfolgreichen Geschäftsmann. Er redet sich, obwohl ihn sein Verteidiger öfters darauf verweist, um Kopf und Kragen, gibt immer mehr Dubioses von sich preis und verstrickt sich damit im Netz. Das Spiel kippt in die Wirklichkeit um. Er widerspricht der Verteidigung, die auf unschuldig plädiert und „gesteht“ den ihm im Spiel zu Last gelegten Mord und vollzieht an sich selbst das Todesurteil.

Das statische Stück drohte nie langweilig zu werden, weil die Gruppe sich ständig um auflockernde Ideen bemühte. So stellt sie z.B. im „Porträt der Woche“ mit harmlosen Bildsequenzen das scheinbare Verbrechen von Alfredo Traps zur Erheiterung der Zuschauer mit humorvollen Anspielungen dar. Im Programm wünschte die Theatergruppe der Oberstufe den Zuschauern einen vergnüglichen Abend und gute Unterhaltung: dafür war bestens gesorgt.

Edgar Dietl (MRG)

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