Man kommt ihm einfach nicht aus. Als nicht tot zu kriegender Wiedergänger geistert Goethes „Faust“ seit Großväterzeiten durch die Lehrpläne der Gymnasien. „Herauf, herab und quer und krumm“ zieht der ewige Sinnsucher seine „Schüler an der Nase herum“. Manch einer mag ihn deswegen verfluchen und froh sein, wenn die leidige Pflichtlektüre endlich abgearbeitet ist. Nicht so die Schülerinnen und Schüler des Kurses „Dramatisches Gestalten“ (Q12, Q11, 10. und 9. Klassen) des Max-Reger-Gymnasiums, die zusammen mit ihrer Spielleiterin Diana Schneider ihren „Faust“ aus einem ganz eigenen „Blickwinkel“ betrachteten und eine abendfüllende Faust-Adaption auf die Bühne brachten. Dass sich Goethes Tragödie auch heute noch ganz hervorragend als Spielwiese für kreative junge Theatermacher eignet, bewies der durchaus respektlose Umgang mit dem durch die Kultusbürokratie „geheiligten“ Werk.
Es ging zwar los wie erwartet mit einem „Prolog“ samt einem überdimensionalen „Herrn“ (Florian Schaudig) , aber dann sahen sich die Zuschauer unversehens in einen Krimi versetzt: Kommissar Luppe (Mona Sommerer) und seine Mitarbeiter (Melissa Renner, Magdalena Schuth) bearbeiten den Fall der verhafteten Kindsmörderin Margaretha Brandt. Die beiden Handlungsstränge entwickeln sich nun gegenläufig: am Ende der Gretchen-Tragödie trifft man sich in der Psychiatrie, wo ein Doktor Psycho-Faust (Anna Sturm) ein total irres Gretchen aus einem (echten) Krankenbett befreien will, um dann mit der Krankenschwester (Laura Neudecker) über den „Fall“ zu diskutieren. Genial, wie der Facettenreichtum der Goetheschen Figuren verdeutlicht wurde: Gretchen z. B. zeigt sich als Liebes-Gretchen (Julia Kalb, die auch noch als ein Faust zu sehen ist), auf der „Straße“ als Täschchen schwingende Prostituierte (Marita Auerbacher) und bei der Hippie-Nachbarin Marthe, (Ann-Kathrin Brünning) als schmuckgeile Tunte (Oleg Stepanov). Dass in Faust mehr als nur „zwei Seelen“ stecken, konnte man an den anderen „Fäusten“ (Martin Schaller, Christina Preuß, Tetyana Tryhub, Julia Trepl, Sarah Lorenz) erkennen. Auch Mephisto ist nicht einfach nur der Böse: Sophie Reinwald gab den sarkastischen, Anna Weskamp den Angst machenden Teufel. Damit die Zuschauer sich in dem permanenten Rollenwechsel nicht verirrten, kam Faust immer mit Stock, Brille und Doktorhut auf die Bühne, Mephisto war an seiner Hutfeder zu erkennen und Gretchen natürlich an der Margerite. Einzig der Erzengel (Marie Hanke) wechselte nur einmal das Outfit, um als Besen schwingende Putzfrau das himmlisch-höllische Spiel zu steuern.
Das ganze Feuerwerk an pfiffig in Szene gesetzten Ideen aufzulisten, würde den Rahmen sprengen: Herrlich beispielsweise die „Garten“-Szene, die kurzerhand in einen Kinosaal verlegt wurde oder die Gretchenfrage, die Gretchen in der Bar beim Warten auf den Merlot stellte. Nicht zuletzt dank musikalischer Untermalung und präziser Lichttechnik war der Theaterabend nicht nur für Faust-Kenner ein Vergnügen. Vor allem aber zogen die Darsteller/innen mit abwechslungs- und temporeichem Bühnenspiel das Publikum in ihren Bann. Bemerkenswert auch, wie sie allesamt die mitunter doch recht schwierigen Textpassagen sicher beherrschten. Dass „Faust“ keine öde Lektüre sein muss, hat dieser Abend gezeigt: „Ihr wisst, auf unsern deutschen Bühnen / Probiert ein jeder, was er mag.“ Am MRG ist das Experiment gelungen. Applaus!
Uta Löw (EG)